Rembrandt und ein Siegel aus Wangen

        WANGEN - Was hat Rembrandt, einer der größten Künstler aller Zeiten, mit
        Wangen zu tun? Viel mehr, als auf Anhieb zu vemuten wäre. Der Fund einer
        kleinen, mysteriösen Scheibe bringt ihn direkt mit dem Städtchen im Allgäu
        in Verbindung — und das 355 Jahre, nachdem er seine berühmte Radierung
        „Faust“ geschaffen hat.

        Von unserem Redakteur Sylvio J. Godon

        M. (Name der Redaktion bekannt) war ein Mädchen. Etwa zehn Jahre alt. So
        genau weiß sie das nicht mehr. Denn heute ist sie 39 und ihre Entdeckung
        liegt Jahrzehnte zurück. Doch sie hat das Erlebte nie vergessen: M.
        spielte allein im Garten des Elternhauses. Auf der Berger Höhe an einer
        Böschung zwischen zwei Bäumen grub sie, wie Kinder es so tun, ein Loch.
        Sie wollte einfach schauen, wie tief sie kommen würde. In etwa 50
        Zentimeter Tiefe stieß sie auf einen Gegenstand —und erschrak vor lauter
        Neugier und Entdeckerfieber.

        Verschlüsselte Worte

        M. barg die kleine Scheibe und brachte sie stolz zu ihrem Vater. Der
        vermutete, dass es sich um eine Art Siegel handelte. Er holte Siegelwachs
        und probierte es mit seiner Tochter aus. Gemeinsam machten sie einen
        Abdruck, der Erstaunliches zu Tage förderte — ein Anagramm, also ein
        Wortspiel mit verdrehten Buchstaben. Der Abdruck im Wachs zeigte deutlich:
        Das Siegel besteht aus drei konzentrischen Kreisen. Im innersten, verteilt
        zwischen die Schenkel eines Andreaskreuzes, sind die Buchstaben „INRI“ zu
        erkennen, im zweiten Kreis die verschlüsselten, lateinisch anmutenden
        Worte „DAGERAM ADAM TE“. Im äußersten Kreis ist zu lesen
        „ALGAR ALGASTNA AMRTET“. Vater und Tochter konnten sich darauf
        keinen Reim machen und gingen der Sache nicht weiter nach.

        Identisch mit Rembrandt-Werk

        M. bewahrt das Siegel seit Kindesbeinen bei sich. Der Fund hat für sie
        etwas Geheimnisvolles, „etwas Gutes“, das sie nicht näher beschreiben
        kann. Dabei hätte sie es bewenden lassen können. Aber immer wieder fragte
        etwas in ihr: Wer hat das Siegel benutzt? Warum? Was bedeutet es? Wie alt
        ist es? Lange Jahre hat M. mehrfach versucht, die Worte mit Hilfe von ihr
        vertrauten Menschen aus ihrer süddeutschen Heimat zu entziffern —
        erfolglos. Seither lässt sie die Frage nicht mehr los: Was habe ich damals
        ausgegraben?
        Aber der Fund bleibt bis heute rätselhaft. Niemand kennt seinen Wert,
        sein tatsächliches Alter. Doch fest steht: Die Scheibe, vielleicht ein
        Siegel, eine Münze oder eine Art Stempel, ist sehr alt und lässt sich
        direkt mit Rembrandt in Verbindung bringen. Der Künstler hat 1652, also im
        Alter von 46 Jahren, eine Radierung geschaffen, die in der Kunstgeschichte
        zunächst unter dem Titel „Der Gelehrte“ firmierte, später dann als
        „Faust“ oder auch als „Der Alchemist“. In seiner typischen Art gestaltet,
        zählt das Blatt zu den bekanntesten unter den rund 300 Radierungen, die
        uns der Künstler im Laufe seines 63 Jahre währenden Lebens hinterlassen
        hat. Das Außergewöhnliche daran ist aber: Auf Rembrandts Kunstwerk ist in
        Form einer Lichterscheinung genau jene Scheibe abgebildet, die M. in ihrem
        Garten gefunden hat. Der „Alchemist“ Rembrandts schaut zum Fenster, an dem
        in der rechten Bildhälfte eine schemenhafte Gestalt steht, die einen
        Spiegel in der Hand hält. Das durch das Fenster hereinfallende Licht
        spiegelt sich darin und reflektiert die Scheibe mit dem Anagramm. Die
        Aufteilung des Siegels in drei ineinander liegende konzentrische Kreise
        und die darin zu lesenden Worte sind identisch mit der Wangener Scheibe.

        Anspielung auf Paulus-Brief?

        Nicht geklärt ist bislang, ob es das Anagramm schon vor Rembrandt gab, ob
        er es von irgendwoher kannte, oder ob er es selbst erfunden hat. In der
        Forschung gibt es dazu kaum Aussagen. Allerdings liegt eine
        Entschlüsselung vor, die auf einen gewissen Martin Bojanowski zurückgeht.
        Er will das Rätsel um die Worte in seiner Schrift „Das Anagramm in
        Rembrandts Faust“ (1938) gelöst haben, und der Göttinger Germanist
        Professor Albrecht Schöne hat es in seinem Faustkommentar von 1994 wie
        folgt gedeutet: „INRI“ steht für den Text der Kreuzestafel „Jesus
        Nazarenus Rex Judaeorum“ („Jesus von Nazareth König der Juden“), „DAGERAM
        ADAM TE“ steht für „Adam Te Adgeram“ („Mensch, ich (Christus), werde Dich
        hinführen“ (zu Gott)) und „ALGAR ALGASTNA AMRTET“ für „Tangas Larga Latet
        Am(o)r“ (Berühren magst Du vieles, verborgen bleibt die Liebe“ (Gottes)).
        So sind laut Schöne die Worte des Anagramms eine Anspielung auf den 1.
        Korintherbrief, 13,2. Dort heißt es: „Und wenn ich weissagen könnte und
        wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis (...) und hätte der Liebe
        nicht, so wäre ich nichts“. Mit diesem Paulus-Zitat ist aber auch eine
        Kernaussage von Goethes „Faust“ angesprochen. Bemerkenswert scheint in
        diesem Zusammenhang, dass Goethe für die Ausgabe von 1790 den
        Kupferstecher Johann Heinrich Lips ein Duplikat der Rembrandt-Radierung
        als Titelblatt anfertigen ließ, allerdings spiegelverkehrt.


        Für Forschung hochinteressant


        Barockspezialist Schöne hält es für kaum wahrscheinlich, dass es sich bei
        dem Fund um eine Münze oder einen Stempel handelt. „Gestempelt haben die
        Menschen im 17. Jahrhundert nicht“, sagte er gegenüber der „Schwäbischen
        Zeitung“. Allerdings könnte es sich bei der Scheibe um einen Prägestempel
        für Münzen handeln, vielleicht aber auch um Zierrat aus einem Möbelstück.
        „Vielleicht war es auch eine Art Geheimzeichen“, sagt er.
        Schöne ist sich nicht sicher, ob Rembrandt sich das Zeichen selbst
        „blanko ausgedacht“ hat. „Es könnte Vorlagen geben“, vermutet er. Auf
        jeden Fall hält er das in Wangen gefundene Zeichen für sehr bedeutsam.
        „Entweder ist es eine scherzhafte, geheimnistuerische Nachbildung nach
        Rembrandt, oder es ging ihm voraus und war eine Vorlage für den Künstler.
        Der Fund ist für die Rembrandt-Forschung hochinteressant, und es lohnt
        sich, ihm auf den Grund zu gehen.“

        Künstler verließ die Heimat nie

        In Wangen ist man bisher in der Frage, was es mit der Scheibe auf sich
        haben könnte, nicht weitergekommen. „Der Fundort gibt Rätsel auf“, sagt
        Stadtarchivar Dr. Rainer Jensch. An dieser Stelle hat es keine
        historischen Bauten gegeben, aus denen die Scheibe stammen könnte.
        Allerdings wurde dort früher Abbruch aus anderen Häusern vergraben.
        Gemutmaßt wurde schon, das seltsame Stück könnte aus dem ehemaligen
        Kapuzinerkloster stammen, aber zu beweisen ist es nicht. Dass Rembrandt in
        Wangen war, ist übrigens ausgeschlossen. Der Künstler hat Holland nie
        verlassen.
        Renommierte Einrichtungen wie das Rembrandt-Haus (Museum Het
        Rembrandthuis) in Amsterdam oder „The Netherlands Institute for Art
        History (RKD)“ können spontan keine Auskunft geben, worum es sich bei der
        Scheibe und dem Anagramm handelt. Auch die Fragen, ob das Anagramm von
        Rembrandt selbst entworfen wurde, ob er es von irgendwoher kopiert hat,
        oder ob Siegel aufgrund seiner Vorlage entworfen wurden, bleiben offen.
        Die Beantwortung bedürfe umfangreichererer historischer Recherchen von
        Spezialisten, verlautet es aus beiden Häusern in ersten Stellungnahmen.

        Finderin hofft auf neue Hinweise

        So muss die Scheibe von Wangen vorerst ein Mysterium bleiben. Entdeckerin
        M. hofft freudig gespannt auf Neues zu ihrem Fund und hütet ihn derweil
        „wie einen Schatz“. Sie möchte selbst nicht an die Öffentlichkeit gehen,
        aber hat dem Wangener Stadtarchiv und der „Schwäbischen Zeitung“ ein Foto
        zur Verfügung gestellt. „Ich wäre froh, wenn sich das Rätsel lösen ließe“,
        erklärt sie.
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        (c) 2007 Schwäbische Zeitung